Der Gerechtigkeitsdiskurs bzw. die sich durch Corona nochmals verschärfende gesellschaftliche Ungerechtigkeit steht aktuell ganz oben auf den Listen der medialen Aufmerksamkeit. Ob das nach Corona so bleiben wird und was Corona mit dem Gerechtigkeitsdiskurs machen wird, können wir heute noch nicht wissen. Aber, seit Corona wissen wir: Gesellschaftliche Veränderungen in ganz großem Stil sind, auch in Gerechtigkeitsfragen, sehr wohl kurzfristig möglich.
Aber was ist eine gerechte Stadt? Mein Indikator, an dem ich ablese, was eine Stadtgesellschaft bereit ist zu tun und zu investieren, um eine gerechte Stadt zu sein, sind die Infrastrukturen für Bildung.
Eine gerechte Stadt ist für mich eine, die zuallererst und vor allen anderen Investitionen massiv in die Infrastrukturen ihrer Bildungseinrichtungen investiert. Und damit in DIE Orte, in denen die nächste Genration gebildet wird. Die Generation, die die sozialen, ökonomischen, ökologischen und kulturellen Träger für die Zukunft der Stadtgesellschaft hervorbringen wird.
Damit beantwortet sich für mich die Frage: Was kann eine Stadtgesellschaft tun, wenn sie Gerechtigkeitsfragen nicht einfach appellativ andernorts lösen lassen, sondern selber handeln will. Es sind Investitionen in die nächste Generation als wichtigste, vordringlichste Investition, ohne Abstriche!
Das Beste wäre hier gerade gut genug, sowohl architektonisch wie städtebaulich. Ablesen könnte ich das sofort auch an den Materialitäten der Einrichtungen in den Städten, die sich das als vordringliche Aufgabe vornehmen. Wenn ich das Gefeilsche sehe, mit dem man beim Bau von Bildungseinrichtungen allzu oft in unserem Land vorgeht, ist häufig das Gegenteil der Fall. Das Billigste an Materialitäten ist hier in der Regel gerade gut genug.
Sie fragen sich, ob das sein kann? Besuchen Sie per Zufallsauswahl 100 Schulen in Deutschland. Und dann je 100 Schulen in Dänemark oder Finnland, nur um einmal zwei Länder zu nennen, in denen Sie sofort den Unterschied sehen werden. Und ich sage Ihnen, insbesondere, wenn Sie noch selber Kinder haben, die Bildungseinrichtungen in Deutschland besuchen: Es kommen Ihnen die Tränen, wenn Sie dort waren und wieder heimkehren.
Hier haben für mich die Kommunen entscheidende Hebel und Mittel in der Hand, über deren Gebrauch und Wirkung sie selber verfügen können. Eine Stadtgesellschaft, die erkennt, dass die nächste Generation die Zukunft der Stadt ist, wird im größtmöglichen Umfang alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel in die Infrastrukturen von Bildung investieren. Denn nur hier können in bedeutendem Maße genau die Kompetenzen und Qualitäten erworben werden, die für die Gestaltung der Zukunft der Stadtgesellschaft entscheidend sind. Durch diese Stadt könnte ich reisen mit dem Gefühl:
Hier ist eine gerechte Stadt.
Hier ist ein Ort, der nicht hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt.
Hier wirkt der Bilbao-Effekt, interpretiert und genutzt für Bildungseinrichtungen.
Hier ist zuallererst und vor allem anderen in die Kinder und Jugendlichen als Aufwachsende der nächsten Generation investiert worden.
Hier ist „mehr wirklich mehr“, nämlich ein Mehr an investiven Mitteln. Und gleichzeitig ist hier, wie das alte Systemgesetz sagt, „mehr auch anders“. Denn es sind nicht alte Strukturen, in die man einfach mehr investiert hat. Sondern das Mehr wurde investiert in andere, innovative, zukunftsgerichtete Bildungsinfrastruktur.
Hier ist Gerechtigkeit praktiziert worden, weil die besten Gebäude der Stadt mit allen denkbaren Infrastrukturqualitäten des „State-of-the-Art“ gebaut wurden.
Hier haben die Kommunen und die Stadtgesellschaft die Hoheit, über eigene Investitionen bezüglich Gerechtigkeit einen Unterschied zu machen, der einen Unterscheid macht. „Unterschieden gerecht werden“, nennt das Wolf Lotter, als das Wasserzeichen der Wissensgesellschaft. Hier kann man damit ernst machen.
Dazu gehörten auch Unternehmen und ihre Kapitaleigner als TEIL dieser Stadtgesellschaft, die genau diese Vorstellung von einer gerechten Stadt als wichtigstes Gut betrachten und ihren eigenen Anteil dazu leisten, dass sie möglicher wird. Hier möchte ich VW als Vorbild nennen – kaum zu glauben, oder? Aber mit dem Geschenk an die Stadtgesellschaft, das Gebäude der „Neuen Schule Wolfsburg“ aus Anlass des 70-jährigen Firmenjubiläums zu finanzieren, hat VW genau das getan: in die Kinder und Jugendlichen der Stadt als der Zukunft der Stadtgesellschaft eine hohe Summe Geld investiert.
Es gab die klare Absicht, in eine bildungsgerechte Schule zu investieren, die allen Kindern und Jugendlichen Chancen bietet. Und genau das ist die „Neue Schule Wolfsburg“ geworden. Ich kann nur jedem empfehlen, das erste Evaluationspapier „Profil, Bilanz, Perspektiven“ zu lesen, das auf der Homepage der Schule heruntergeladen werden kann.
Ich will hier aber keinen Diskurs über private Investoren in Bildung aufmachen, sondern lediglich die Verantwortung auch der lokalen Unternehmerschaft für die Gerechtigkeit in ihrer Stadt unter den genannten Aspekten aufzeigen.
Insofern kann ich abschließend die Ausgangsfrage in aller Klarheit beantworten: Was ist die gerechte Stadt? Es ist eine, die in das Aufwachsen und die Bildung von Kindern und Jugendlichen in herausragender Weise investiert. Und die erst danach das, was weiter zu verausgaben ist, in Kultur, hochwertige öffentliche Räume und öffentliche Infrastrukturen investiert.
Der Beitrag ist eine gekürzte Version eines Vortrags von Karl-Heinz Imhäuser im Rahmen der Gesprächsreihe der IBA Heidelberg, „Die Stadt als Mobilé“, „Die gerechte Stadt – Wie gestalten wir das urbane Morgen?“ (Online, 11./12. März 2021, Respondenz auf den Keynote-Vortrag von Wolf Lotter, „Die Vielfalt gestalten. Den Unterschied machen.“).