19. December 2023; Von: Lisa Lemke , Antonia Blaer-Nettekoven

Ganztag und Raum: Dokumentation und Film zum Pilotprojekt in Ulm jetzt online

Wie lässt sich gute inklusive ganztägige Bildung in bestehenden Räumen umsetzen? Die Ergebnisse aus unserem ersten Pilotprojekt „Ganztag und Raum“ in Ulm sind jetzt in einer Dokumentation und einem Film online abrufbar.

Durch den kommenden Rechtsanspruch auf ganztägige Förderung stehen viele Schulstandorte vor der Frage: Wie lässt sich einem Mehrbedarf an Ganztagsplätzen begegnen, wenn das Angebot an Raum begrenzt ist? Während viele Standorte mit dem Zubau von Räumen reagieren, verfolgt die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft im Projekt „Ganztag und Raum“ einen anderen Ansatz: Anstatt in Neubauten zu investieren, kann es sinnvoller, nachhaltiger und kostengünstiger sein, in einem Ganztagsentwicklungsprozess das pädagogische und das organisatorische Konzept gemeinsam mit der Raumnutzung neu zu denken.

Wie derartige Konzepte aussehen können, erarbeitet die Stiftung unterstützt durch Prozessbegleitungsteams aus Architekt*innen und Pädagog*innen gemeinsam mit allen Beteiligten vor Ort in insgesamt fünf Pilotprojekten. Das erste Pilotprojekt an der Martin-Schaffner-Schule in Ulm ist bereits abgeschlossen und wurde umfangreich dokumentiert. Die Dokumentation und ein Film sind jetzt online abrufbar. Sie beschreiben ausführlich das integrierte Nutzungskonzept, die einzelnen Phasen des Prozesses sowie die Sichtweisen der einzelnen Beteiligten.

Die Ausgangslage an der Martin-Schaffner-Schule in Ulm

Die Martin-Schaffner-Schule ist in zwei Gebäuden untergebracht: einem Hauptgebäude, das sich die Grundschule mit der benachbarten Gemeinschaftsschule teilt, und einem Pavillonbau. Im Hauptgebäude befinden sich die Verwaltung, die Mensa, sowie die Unterrichts- und Betreuungsräume der dritten und vierten Klassen. Der Pavillon beherbergt Unterrichts- und Betreuungsräume der unteren Jahrgänge. Beide Gebäude sind über einen überdachten, offenen Gang miteinander verbunden.

Das in Ulm erarbeitete integrierte Nutzungskonzept wurde zunächst anhand der vorhandenen Grundrissstruktur des Pavillons entwickelt. Gebäudetypologisch gibt diese die clusterartige Anordnung von Räumen vor. Bislang unterlagen diese Räume aber getrennten Zuständigkeiten. So wurden z. B. die vier großen Räume im Erdgeschoss als jeweils zwei Klassen- und zwei Betreuungsräume genutzt.

Das integrierte Nutzungskonzept: Das WG-Konzept

Das im Pilotprojekt entwickelte integrierte Nutzungskonzept sieht die Auflösung dieser getrennten Belegung vor. Bildlich gesprochen orientiert es sich an der Idee einer Wohngemeinschaft, in der Räume teils privat und teils gemeinsam genutzt werden. Dabei sind je zwei Lerngruppen in einer WG, die aus vier großen Räumen besteht, untergebracht. Zwei der Räume werden – analog zum WG-Zimmer – zur „Homebase“ der jeweiligen Lerngruppen. Ein dritter Raum wird zu einem gemeinsam genutzten „Leiseraum“. Hier sind konzentrierte Einzelarbeit und Rückzug möglich. Sichtbeziehungen zwischen diesen Räumen erlauben einen durchgängigen Überblick über die WG. Der vierte Raum wird zu einem Themenraum umgewandelt, der von der ganzen Schulgemeinschaft genutzt werden kann.

Das „WG-Konzept“ lässt sich dabei sowohl im Pavillon als auch im Hauptgebäude mit seiner Klassenraum-Mittelflur-Typologie übertragen. So werden im ersten Obergeschoss des Hauptgebäudes mittels Sichtbeziehungen und räumlichen Verbindungen zwei „Wohngemeinschaften“ auf einem Geschoss untergebracht werden.

Bestandteil des integrierten Nutzungskonzeptes sind zudem nicht nur die allgemeinen Lernbereiche. Der Mensabereich findet gleichermaßen Betrachtung, wie auch der Außenraum. Auch hier gilt es, die gesamten Flächenressourcen zu betrachten und über den gesamten Tag mit Aktivitäten zu füllen, losgelöst von Zuständigkeiten und Tageszeiten.

Ganztagsentwicklung ist Teamarbeit

Das integrierte Nutzungskonzept bleibt nicht bei einer veränderten Raumaufteilung stehen. Für das Gelingen ist es essenziell, die Raumnutzung mit Pädagogik und Organisation zusammenzudenken.

Deshalb ist jeder WG ein multiprofessionelles Team aus pädagogischen Mitarbeiter*innen und Lehrkräften zugeordnet, das die Kinder in der WG über den gesamten Tag begleitet. Im gemeinsamen Teamraum pro WG stehen Arbeitsplätze für die Mitarbeiter*innen zur Verfügung.

Um eine gelingende multiprofessionelle Teamarbeit zu gewährleisten, braucht es klare Absprachen, was die Zuständigkeiten und Aufgaben betrifft. Indem Vormittag und Nachmittag miteinander verzahnt werden, Pädagogische Mitarbeiter*innen die Kinder auch am Vormittag begleiten und Lehrkräfte Angebote am Nachmittag mitgestalten, entsteht ein qualitatives Ganztagsangebot auf Grundlage eines gemeinsamen Bildungsverständnisses.

Um alle diese Maßnahmen umzusetzen, benötigt es Zeit. Auch nach der Begleitung durch die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft wird der Ganztagsentwicklungsprozess vor Ort weitergeführt.

Vier weitere Pilotprojekte gestartet

Im September 2023 ist der Startschuss für die aktuellen Pilotprojekte in Jork (Niedersachsen), Mülheim an der Ruhr (Nordrhein-Westfalen), Lüdenscheid (Nordrhein-Westfalen) und Bremen gefallen. Wir freuen uns auf weitere spannende Prozesse mit unterschiedlichen integrierten Nutzungskonzepten, von denen anschließend Kommunen bundesweit profitieren können. Über die Ergebnisse berichten wir hier im Blog!

Was ist ein „integriertes Nutzungskonzept“?

Ein Integriertes Nutzungskonzept verbindet die pädagogische und die organisatorische Perspektive mit der räumlichen. Darin richtet sich die Nutzung der Flächen und Räume nicht mehr nach Tageszeiten und Zuordnungen (Schule/Betreuung), sondern orientiert sich an pädagogischen Anforderungen und Aktivitäten.

Damit dies funktioniert, müssen die Räumlichkeiten gemeinsam genutzt werden. Voraussetzung dafür ist, dass die bisher getrennten Bildungsangebote ineinandergreifen. Kurz gesagt: Vormittag und Nachmittag müssen mit- statt nacheinander arbeiten. Hierfür müssen sich Lehrkräfte und pädagogische Mitarbeiter*innen auf Grundlage eines gemeinsamen Bildungsverständnisses als gemeinsames Team begreifen.

So kann auch eine gemeinsame Raumnutzung befördert werden. Der Blick wird dabei auf alle zur Verfügung stehenden Flächen gelenkt. Ausgestaltung, Ausstattung und Möblierung der Räume werden an die neuen Bedarfe angepasst. Die Entwicklung eines integrierten Nutzungskonzepts ist damit ein iterativer Prozess in der Wechselwirkung zwischen Raum, Organisation und Pädagogik.

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Ganztag und Raum. Pilotprojekt Ulm: Martin-Schaffner-Schule

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