Wir brauchen Veränderungskompetenz!
Über 300 Akteure aus Kommunen, Schulen, Jugendhilfe und Schulaufsicht informierten sich über die Bewerbung als Pilotkommune für den neuen Projektdurchlauf ab September 2023. Neben Informationen zum Bewerbungsverfahren und zur erstmaligen Durchführung von „Ganztag und Raum“ in Ulm (https://schulen-planen-und-bauen.de/2023/01/09/von-getrennt-genutzten-zu-ganztaegig-gemeinsam-bespielten-raeumen/), machte Myrle Dziak-Mahler, Kanzlerin der Alanus Hochschule in Alfter, deutlich: „Um für die Zukunft vorbereitet zu sein, brauchen wir Mut zur Veränderungskompetenz“. Ein Gastbeitrag:
Die vergangenen Jahre haben uns vor große Herausforderungen gestellt. Diese Herausforderungen sind im Schulsystem direkt ablesbar: Laut Erhebung des Deutsches Schulportals vom November 2022 ist die derzeitig größte Herausforderung für Schulen in Deutschland der immer größer werdende Personalmangel, der dazu führt, dass viele Lehrkräfte ihre Schüler*innen nicht mehr ausreichend beim Lernen unterstützen können. Schulentwicklungsprozesse werden aus Zeitmangel gestoppt; Schulleitungen schätzen ihre derzeitige Arbeitsbelastung als sehr hoch ein (Deutsches Schulbarometer, November 2022).
Diese Problematik trifft auf Kinder und Jugendliche, die durch die Coronapandemie mehr denn je den Bedarf nach Unterstützung und Förderung haben. Laut der Studie „Jugend in Deutschland“ ist die psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen gestiegen: fast die Hälfte der Befragten fühlt sich unter Stress, mehr als jede*r Dritte spricht von Antriebslosigkeit. Auch der Blick in die Zukunft hat sich verschlechtert: für viele 14-29-jährige, die sich gerade von den Auswirkungen der Coronakrise erholten, war der Ukrainekrieg ein großer Schock (Schnetzer 2022, Jugend in Deutschland). Gefolgt von Klimawandel, Inflation, Spaltung der Gesellschaft und der Angst vor einer Wirtschaftskrise, ist die Sorge der Kinder und Jugendlichen sehr hoch.
Veränderung und ihre Geschwindigkeit
Die Veränderung der Gesellschaft hat durch die Coronakrise und den Ukrainekrieg an Dynamik gewonnen und an und Geschwindigkeit zugelegt. Doch auch bereits vor diesen Krisen hatten wir es mit einer erhöhten Veränderungsgeschwindigkeit durch die Digitalisierung zu tun. Geschwindigkeit kann zu Unsicherheit führen. Wenn wir zum Beispiel im schnellfahrenden ICE sitzen, dann verschwimmt um uns herum die Umgebung. Wir können die nahe Landschaft aus der rasend schnellen Bahn nicht mehr gut erkennen. Wenn man jedoch nicht mehr genau sehen kann, weil alles so verschwommen ist, dann wird man unsicher. Diese Unsicherheit wird auch in der so genannten VUKA-Welt beschrieben. VUKA ist ein Akronym und bezeichnet eine Welt, die durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität geprägt ist. Das heißt, dass wir mit einer Welt konfrontiert sind, in der wir nicht wissen, was als nächstes kommt. Stetiger Wandel ist darin Normalfall. Veränderung findet jeden Tag statt.
Es braucht Veränderungskompetenz
Um mit dieser Welt umgehen zu können, braucht es eine besondere Haltung zur Veränderung: weg von der Reaktion auf neue Dinge oder Krisen, hin zur Aktion – weg vom Verwalten, hin zum Gestalten. Alle die in Schule pädagogisch arbeiten, vor allen Dingen aber die Kinder und Jugendlichen, benötigen diese „change literacy“, um auf die Welt von morgen vorbereitet zu sein. Veränderungskompetenz bedeutet, Unsicherheiten auszuhalten, Widersprüche zuzulassen, starke und belastbare Beziehungen aufzubauen sowie mit Komplexität umzugehen. Doch was meint Komplexität? Bisher sind wir es gewohnt in Schule mit komplizierten Dingen und Aufgaben umzugehen. Es wird ein Problem analysiert und untersucht, um anschließend den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang und entsprechende Lösungen zu ermitteln. Dementsprechend wird gehandelt. Komplexe Sachverhalte haben jedoch keinen linearen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang. Vielmehr gilt hier das Verfahren des Erprobens und Erkundens. Anschließend geht es um das Wahrnehmen, wie sich das Experiment/der Versuch ausgewirkt hat und schließlich um das Weiterentwickeln des Ganzen. Es geht nicht mehr um good practice, sondern um emergent practice.
Ganzheitlich macht den Unterschied
Veränderungskompetenz alleine reicht jedoch noch nicht aus. Um mit den komplexen gesellschaftlichen Herausforderungen umzugehen und Kinder und Jugendliche bestmöglich zu unterstützen, können Lehrkräfte nicht mehr als Einzelplayer agieren. Gemeinsam mit pädagogischen Mitarbeiterinnen, Schulsozialarbeiterinnen, Psychologinnen, Integrationshelferinnen und vielen weiteren Professionen wird ein ganzheitlicher Blick auf das Kind oder den Jugendlichen ermöglicht. Ganztagsschulen sind dabei Lebens- und Lernorte, in denen Kinder unterschiedliche Ansprechpersonen für ihre Bedürfnisse finden; in denen sie vielfältige Lernangelegenheiten entdecken, in Projekten lernen, Raum für Gemeinschaft finden und in partizipativen Formaten demokratisches Handeln erfahren. Ganztagsschulen ermöglichen veränderte Lernzeiten und engere Zusammenarbeit mit Eltern und Sorgeberechtigen. Um Kinder und Jugendliche auf die Welt von morgen vorzubereiten, ist eine qualitative Ganztagsbildung – unabhängig vom längst überfälligen Rechtsanspruch – unabdingbar.
Auf dem Weg zur neuen Praxis – Das Projekt „Ganztag und Raum“
Dies bedeutet für viele Schulen ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel. Um qualitative Ganztagsbildung zu etablieren, braucht es Raum und Zeit für multiprofessionelle Teamarbeit, eine veränderte Rhythmisierung des Tages, ein verändertes Rollenverständnis der Lehrkräfte und pädagogischen Mitarbeiterinnen, ein gemeinsames Bildungsverständnis und meist auch ein grundsätzlich neues Raumkonzept. Damit gemeinsam gearbeitet, gelernt und gelebt werden kann, müssen Klassen- und Betreuungsräume aufgelöst werden und gemeinsame Räume entstehen, die über den gesamten Tag gemeinsam genutzt und bespielt werden. Eine komplexe Herausforderung, die von allen Beteiligten Veränderungskompetenz und Mut zum Ausprobieren und Erproben neuer Dinge erfordert (Deutsche Kinder- und Jugendstiftung 2021, Ganztagsschule und Pandemie: Die Potenziale des guten Ganztags). Durch das Projekt „Ganztag und Raum“ der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft können Grundschulen sich dabei jedoch Unterstützung suchen. Gemeinsam mit Expertinnen aus Architektur und Pädagogik erhalten sie einen qualitativen Ganztagsentwicklungsprozess, der die Schule pädagogisch als auch räumlich auf die Zukunft vorbereitet. Denn „nicht nur das Bessere zu denken, sondern das Bessere zu tun – das wird darüber entscheiden, wie die Zukunft wird“ (Harry Gatterer, Zukunftsforscher)