30. August 2015; Von: Dr Karl-Heinz Imhäuser

Welche Räume braucht eine inklusive Schule?

Lernen in inklusiv zusammengesetzten Gruppen braucht neue Raumarrangements, an Grundsätzen von Inklusion ausgerichtete Pädagogik braucht Raumstrukturen. Welche Konsequenzen hat das für den Schulbau?

Lernen in inklusiv zusammengesetzten Gruppen braucht neue Raumarrangements jenseits der Klassenraum-Flur-Schule. Moderne, an den Grundsätzen von Inklusion ausgerichtete Pädagogik braucht Raumstrukturen, die verschiedene Formen des Lernens und des Austausches zulassen und gleichzeitig dem Bedürfnis nach Rückzug, Entspannung oder Bewegung Rechnung tragen. Wenn eine Schule neu gebaut wird, dann lautet die erste Frage deshalb: Wie kann der Bau den zukünftig inklusiven Anforderungen im Bildungssystem entsprechen?

Räume für eine inklusive Schule

Räume, die in deutschsprachigen Schulsystemen bisher primär in einem stark ausdifferenzierten System von Förderschulen existierten, werden zunehmend in den allgemeinbildenden Schulen eingeplant werden. Dabei ist von vornherein zu vermeiden, dass die alte Systematik der Separation in neuer Form wieder in der Regelschule eingeführt wird, indem durch entsprechende räumliche Trennung ein Abbild der Förderschule in der Regelschule entsteht.

  1. Therapeutische Unterstützung: Für Schüler/innen mit spezifischen Beeinträchtigungen und daraus folgendem Assistenzbedarf

  2. Krisenvorbeugung: Für Schüler/innen, die mit längeren Konzentrationsphasen Probleme haben oder besonderen psychischen Belastungen ausgesetzt sind, haben sich sogenannte Stop- oder Auszeitenkonzepte bewährt. Für diese Konzepte bedarf es eines eigenen Raums, der nicht mit Unterrichtsaktivitäten belegt wird, da er den ganzen Tag für diese temporären Maßnahmen verfügbar sein muss.

  3. Körperliche Versorgung: Zur körperlichen Versorgung von Schüler/innen mit gravierenden Beeinträchtigungsphänomenen und damit erhöhtem Assistenzbedarf bei der Körperhygiene kann im Einzelfall ein Pflegeraumbedarf notwendig sein, der über die Einrichtung einer Behindertentoilette hinausgeht, bis hin zu Räumen mit Waschmaschine und Trockner.

  4. Medizinische Betreuung: Ein Krankenschwesterraum bzw. eine Erste-Hilfe-Station, u.a. für die sichere Lagerung von Arzneimitteln, kann in Verbindung mit einer über feste Zeiten eingestellten Krankenschwester – wie Beispiele in skandinavischen Ländern zeigen – auch als Schulsozialstation genutzt werden; ebenso für Gesundheitsfürsorge und Aufklärung.

  5. Verstauung von Rehabilitationsgerät: Besuchen mehrere Kinder und Jugendliche mit Rollstühlen oder anderen technischen Unterstützungssystemen eine Schule, sind entsprechende Stauräume bzw. Abstellflächen einzuplanen.

  6. Sich zurückziehen, ausruhen: Für Schüler/innen, die mit längeren Konzentrationsphasen Probleme haben oder die spezifische physische Bedarfe und komplexeren Assistenzbedarf haben, muss sich im Rahmen des gemeinsamen Unterrichts eventuell ein akustisch und optisch abgeschirmter Raum an die reguläre Unterrichtsfläche anschließen. Diese Räume müssen andere Anforderungen erfüllen und eine andere Ausstattung aufweisen als die unter Punkt 2 genannten Räume, die auf Intervention angelegt und dezentral lokalisiert sind.

  7. Peers unter sich: Schulversuche zum gemeinsamen Unterricht haben gezeigt, dass insbesondere in Sekundarstufe-I-Schulen für einige Jugendliche mit ähnlichen Behinderungen ein zeitlich begrenztes Erfahrungslernen in gemeinsamen Lernfeldern wichtig ist. Räume, in denen solche Lerngruppen temporär zusammenarbeiten oder im Ganztag unterrichtsfreie Zeiten verbringen können, sind auch in Mehrfachnutzung mit schon vorhandenen Lernräumen denkbar.

  8. Werkstattarbeit: Schulen mit dem Förderschwerpunkt „Lernen“ und emotional/sozialem Förderbedarf sind in dieser Form und vor allem in diesem Umfang nur in Deutschland ausgebaut. Ihre Schülerschaft macht den größten Teil der derzeitigen Exklusionsquote unseres Schulsystems aus. Diese Schulen decken bislang einen wichtigen Teil ihres Unterrichtsangebots im Sekundarschulbereich sinnvollerweise mit berufsvorbereitenden Werkstätten ab. In diesen werden praktische Angebote in realen Werkstattsituationen bis hin zu Schülerfirmenprojekten angeboten. Somit werden gut ausgestatte Werkstatträume zukünftig zum Inventar der Regelschule werden.

  9. Beratung: Für niederschwellige Beratungsangebote bedarf es entsprechend ausgestatteter und akustisch abgeschirmter Beratungsräume. Hier ist noch einmal auf die Schulbauleitlinie der Stadt Köln zu verweisen, die in Bezug auf soziale Problematiken dezidiert die Konsequenzen für räumliche Aspekte benennt (S. 9).

  10. Bewegungsfreiheit: Über die gesetzlichen Anforderungen hinaus gibt es vielfältige weitere kreative Möglichkeiten, alle Schulbereiche uneingeschränkt zugänglich zu machen: Verkehrswege mit Rampen, Aufzug, rollstuhlgerechte Flur- und Türbreiten etc. Dies muss frühzeitig in jedem Planungsprozess bedacht und wo immer möglich realisiert werden.

  11. Unterricht: Schüler/innen mit emotional/sozialem Förderbedarf haben ein besonders ausgeprägtes Bewegungsbedürfnis. Dies fand Berücksichtigung bei der Definition des Flächenbedarfs der früheren Förder- oder Sonderschulen für den regulären Unterrichtsraum und muss in Zukunft auch für die Definition des Flächenbedarfs einer inklusiven Schule gelten. (Vgl. Imhäuser 2012)

Nicht alle genannten Räume können und müssen in jeder Schule bereitgestellt werden.

Das Raumprogramm hängt primär von der Frage ab, welche Schüler/innen mit welchem Assistenzbedarf aufgenommen werden.

In inklusiven Ganztagsschulen benötigen Lehrer und andere Mitarbeiter gut ausgestattete Arbeitsplätze und ein ausreichendes Set an Arbeits-, Besprechungs- und Erholungsräumen. Dort, wo Ganztagsbildung in Kooperation mit außerschulischen Partnern stattfindet, entstehen entsprechende Raumbedarfe für die Integration anderer Bildungsträger.

Neue Raumarrangements

An die Stelle der vorherrschenden Klassenraum-Flur-Schule werden zukünftig andere Lernraummodellierungen treten, um das Lernen der Zukunft räumlich-architektonisch zu realisieren. Dabei gelten vier notwendige Raumarrangements (vgl. zur Begründung auch Kersten Reich, Inklusive Didaktik, Weinheim 2014):

  1. Lernlandschaft im Lerncluster und Fachräumen: Im Zentrum steht bei diesem Organisationsmodell nicht mehr der Klassenraum, sondern ein Raumcluster, häufig „Base“ genannt, in der vor allem individualisiert gelernt werden kann. Merkmal dieser Raumcluster ist ein zentraler Kooperationsraum, an den „Gruppenräume“ anschließen.

  2. Projektbereich: Projekte umfassen fachübergreifende Themenlinien und können im Lerncluster organisiert und durchgeführt werden.

  3. Werkstattbereich: Arbeitsgemeinschaften ermöglichen Wahlbereiche, die im Ganztag entweder Teile der Stundentafel abdecken oder Zusatzangebote beinhalten. Sie können entweder in den multifunktionalen Räumen des Lernclusters als auch in Fachräumen der Schule durchgeführt werden.

  4. Unterricht mit Instruktion und Übungen: Dem Bedarf nach vielfältig nutzbaren Lern- und Unterrichtsbereichen kann durch die Vergrößerung, Verknüpfung und veränderte Zonierung von Basisräumen entsprochen werden. Mit einer zeitweiligen Verknüpfung mehrerer Basis- oder Klassenräume zu einem großen Lernatelier oder Vortragsraum können Lern- und Unterrichtseinheiten für größere Gruppen ermöglicht werden.

Leitlinien für leistungsfähige Schulbauten in Deutschland

Einen umfassenden Orientierungsrahmen für die Kommunen und Länder, der für die zukünftige bauliche Ausgestaltung des Themas Inklusion Flächenberechnungen aufzeigt, bieten die in einem breiten Bündnis von kommunalen Verbänden, dem Bund Deutscher Architekten (BDA) und Lehrerverbänden gemeinsam mit den Montag Stiftungen im Herbst 2013 erschienenen „Leitlinien für leistungsfähige Schulbauten in Deutschland“ (Montag Stiftung Urbane Räume/Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft/Bund Deutscher Architekten/Verband Bildung und Erziehung (Hg.) 2013). Damit ist ein Rahmen formuliert, in dem die inhaltlich-konzeptionellen Aspekte für die zukünftige Entwicklung von Schulbauten und die Umsetzung von Inklusion Platz finden.

Fazit

Inklusion stellt viele neue Anforderungen an Schule – auch räumlich. Die Vielfalt von Kindern spiegelt sich in neuen Lernarrangements, die wiederum neue Raumkonzepte erfordern. Im Mittelpunkt steht dabei die Flexibilität: Wir brauchen in Zukunft keine besonderen Räume für besondere Schüler/innen. Wir brauchen Lernumgebungen, die in der Lage sind, die Begabungen aller Kinder und Jugendlichen aufzunehmen und zu unterstützen – und von denen alle profitieren. Legt man bei zukünftigen Planungsfragen von vornherein das Verständnis eines „Designs für alle“ an, sind die in den Anforderungen genannten Räume nicht nur für Schüler/innen mit Bedarf an angepassten Lösungen, sondern für alle Kinder und Jugendlichen eine Bereicherung.

Links

Der Beitrag ist die gekürzte Version meines in der Zeitschrift Pädagogik (11/2014) erschienen Artikels „Welche Räume braucht eine inklusive Schule“. Der vollständige Artikel kann hier als PDF heruntergeladen werden:

Autor:innen

Dr Karl-Heinz Imhäuser

Dr. Karl-Heinz Imhäuser, Vorstand der Montag Stiftung  ist Mitglied der Hauptversammlung der Deutschen UNESCO-Kommission und des Expertenkreises für inklusive Bildung.