Herr Imhäuser, viele Schulgebäude stammen noch aus der Kaiserzeit. Den Anforderungen an eine demokratische, inklusive Bildung werden sie kaum gerecht. Warum werden trotzdem noch etwa 90 Prozent der Schulneubauten im alten Stil errichtet?
Das alte Modell der Klassenräume war lange erfolgreich, es hat sich als mentales Muster in den Köpfen festgesetzt. Wahrscheinlich fällt ein Umdenken auch deshalb so schwer. Aber mit der alten Idee von Raumgestaltung und Klassen von 60 Quadratmetern kommen wir heute nicht mehr weit. Damals war die zentrale Bildungsidee die homogene Lerngruppe in einer Klasse. Punkt. Heute haben wir es zunehmend mit heterogenen Lerngruppen jenseits des Klassenverbandes zu tun. Es gibt Lernbüros, selbstorganisiertes Lernen, flexible Stundenpläne, Projekte. Dafür brauchen wir dringend andere Lernumgebungen.
Das heißt?
Eine zeitgemäße Schule braucht größere Flächen, auf denen sich die unterschiedlichen Lerngruppen variabel je nach Thema und Lernphase organisieren können. In Skandinavien verzichten manche Schulen bereits ganz auf Klassenzimmer. Stattdessen haben sie Lernlandschaften von 600, 800 Quadratmetern. Auf dieser Fläche gibt es „Stilleräume“ ganz aus Glas, in denen die Schülerinnen und Schüler einzeln konzentriert an Themen arbeiten können. Es gibt „Kommunikationszonen“ mit Kaffeebar und Wasserkocher zum Plaudern, „Lernräume“ für Dreier-, Vierer- oder Achtergruppen, akustisch abgeschirmte Boxen mit bequemen Sitzen, in denen sich Jugendliche locker zu Debatten zusammensetzen können, ohne andere Lernende zu stören. Akustikelemente an den Decken, Lamellensysteme, schalldämmende Materialien sorgen dafür, dass es nicht zu laut wird.
Wie gehen Sie vor, wenn Sie einen inklusiven, zukunftsfähigen Schulneubau planen?
Als Erstes müssen wir natürlich schauen, für wen die Räume überhaupt da sein sollen. Mit welcher Schülerklientel haben wir es zu tun? Welche Lernmöglichkeiten benötigt der inklusive Unterricht am Ort? Was ist für eine Ganztagsschule notwendig? Lange hat man dafür zum Beispiel einfach Nachmittagsräume dazu gebaut – obwohl nachmittags ja die Vormittagsräume leer stehen. Doch mehr ist nicht automatisch besser. Bei der Planung müssen wir daher immer wieder fragen: Wie können wir Räume so gestalten, dass sie für mehrere Gruppen und Zwecke zu nutzen sind? Beispiel Flüchtlingsklassen. Brauchen wir dafür wirklich zusätzliche Räume oder können wir sie in die bestehenden Gebäude integrieren? Es wird da vorschnell viel Unsinniges gebaut.
Wie kann sich die Schule auch nach außen öffnen? In die Stadt, das Quartier?
Indem man die Kommunen schon in der Planungsphase einbezieht. Die Brede Schools in den Niederlanden machen das vor. Beratungszentren oder Bibliotheken werden dort von Anfang an in Schulgebäuden eingeplant. Auch in Deutschland sollten wir die Schulen endlich für das Quartier öffnen. Die inklusive Universitätsschule in Köln zum Beispiel, die gerade in Planung ist, versucht das jetzt. Sie integriert kleine Hörsäle in das Schulgebäude, damit Professoren der Hochschule Vorträge für Oberstufenschüler und Bewohner aus dem Viertel halten können.
Kommt in die Bildungsarchitektur überhaupt langsam etwas Bewegung?
Ich bin da skeptisch. Sicher, es rollt eine Schulbauwelle auf uns zu, wie in den 1970er-Jahren. Laut KFW-Bank müssen in den kommenden Jahren 34 Milliarden in den Schulbau investiert werden. München, Hamburg, Leipzig, in allen großen Kommunen wird gerade massiv gebaut. Vor fünf Jahren noch waren wir überzeugt, dass wir mit Umbauten hinkämen. Das hat sich völlig geändert.
Wodurch?
Zum einen durch den massiven Zuzug in die Städte. Allein Berlin muss bis 2024 76 000 neue Schulplätze aus dem Boden stampfen. Zum anderen durch die hohen energetischen Vorgaben und die strengeren Brandschutzbestimmungen für Schulgebäude. Da ist es oft billiger, neu zu bauen, als die Betonklötze aus den 70ern zu sanieren. Ich fürchte, dieser enorme Handlungsdruck beschert uns wieder hektisch zusammengeschusterte Billigmodelle, Klassenraumschulen, Container. Bestenfalls zehn Prozent der Schulneubauten bis 2020 werden in Deutschland innovativen Plänen folgen.
Was tun?
Wir brauchen kluge Anreizsysteme. Wenn Kommunen etwa die Vergabe der Gelder an innovative Gestaltungskonzepte knüpften, geriete sicher einiges in Bewegung.
Das Gespräch mit Dr. Karl-Heinz Imhäuser, Vorstand der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft, führte Anja Dilk für die Zeitschrift “Erziehung und Wissenschaft”.
E&W – Erziehung und Wissenschaft, September 2016; S. 12-13.
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