20. November 2023; Von: Hans Brügelmann

Architektur – pädagogisch gedacht

Wie können Schulen zu Lehr-/Lernorten werden, an denen Kinder und Jugendliche mit Pädagog*innen produktiv zusammen arbeiten – und leben? Und wie müssen sie aussehen, damit Heranwachsende die Schulpflicht (zumal im Ganztag!) nicht als Wegsperren, sondern als Wertschätzung wahrnehmen? Eine Rezension zu Otto Seydels neuem Buch „Anforderungen an ein Schulgebäude. Lernräume – Arbeitsräume – Lebensräume“.

Vor über 30 Jahren haben Dreier, Kucharz u. a. mit ihrem reich bebilderten Band „Grundschulen planen, bauen, neu gestalten – Empfehlungen für kindgerechte Lernumwelten“ einen ungewohnten Blick auf pädagogische Architektur eröffnet. Da konnte man Schulen sehen, die nicht mehr äußerliche Repräsentationsbauten waren, wie viele Gymnasien aus dem 19. Jahrhundert, aber auch nicht bloß Zweckbauten wie die Fertigteilschulen der 1970er Jahre. Das pädagogische Credo der Autor*innen: „Schule soll anregen, Handlungen ermöglichen, Geborgenheit vermitteln und Übungsort für Demokratie sein, kurzum ein Ort, an dem sich Kinder wohl fühlen, aufwachsen und lernen können.“

Anfang 2024 wird der – ästhetisch ungemein ansprechende – Nachfolgeband „Schularchitektur und Lernraumkultur. Grundschule neu denken, neu planen, neu gestalten“ erscheinen – herausgegeben von Kirch und Ramseger, ebenfalls beim Grundschulverband, als Band 157 der „Beiträge zur Reform der Grundschule“. Legt man beide Bücher nebeneinander, wird deutlich, dass die damals noch revolutionär anmutende pädagogische Architektur inzwischen fast selbstverständlicher Anspruch ist. Aber in der Realität sehen deutsche Schulen immer noch anders aus. In der Regel bestimmen eher architektonische Traditionen bzw. technische Vorgaben und nicht pädagogische Konzepte, wie Schulen gebaut werden.

Da kommt der Band „Anforderungen an ein Schulgebäude. Lernräume – Arbeitsräume – Lebensräume“ gerade recht, den Otto Seydel im Juni dieses Jahres bei Klett/Kallmeyer publiziert hat. In den letzten Jahren konnte man immer wieder lesen, der Raum sei „der dritte Pädagoge“. Otto Seydel macht deutlich: Das ist er nicht von selbst, sondern wegen der „verbauten“ Ideen von Pädagogik, deren Prinzipien deshalb zuallererst zu bestimmen sind (s. Kap. 1). Darum ist sein Buch trotz des eher technisch klingenden Titels ein pädagogisches Werk. Sicher, es geht um Architektur, aber Seydel, langjährig erfahrener Lehrer und Schulentwickler, denkt den Raum als wesentliche Bedingung für das Lernen und Leben in der Schule. Und wer die von Seydel mit entwickelten „Standards“ des Reformverbunds „Blick über den Zaun“ und die ebenfalls von ihm mit erdachten Kriterien des Deutschen Schulpreises (Robert-Bosch-Stiftung u. a.) kennt, weiß, dass hier ein exzellenter Pädagoge am Werk ist.

Seydel kennt aber auch die oft mühevolle Entwicklungsgeschichte der pädagogischen Architektur, mit der er sich seit über 25 Jahren auseinandergesetzt hat. Beispielsweise war er maßgeblich an der Erarbeitung des Leitfadens „Schulen planen und bauen – Grundlagen und Prozesse“ (1. Auflage 2012) beteiligt, der in Kooperation der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft und der Montag Stiftung Urbane Räume zusammen mit einem interdisziplinären Autorenteam entstanden ist. In ihm spielt die „Phase Null“ eine besondere Rolle, in der Architekt*innen mit Pädagog*innen, aber auch mit Kindern darüber nachdenken, welche Interessen und Vorstellungen zu berücksichtigen sind, damit ein Gebäude den Bedürfnissen vor Ort gerecht wird.

Seydels Anspruch ist nicht „das optimale Schulgebäude“. Er macht deutlich, dass es durchaus unterschiedliche Konstellationen gibt, die denselben pädagogischen Prinzipien gerecht werden, aber eben nicht auf beliebige Weise. Seydel formuliert Anforderungen an Schule als Lebens-, Lehr-, Lern- und Arbeitsort, die er als konkrete „Aktivitätstypen“ und „Settings“ beschreibt (Kap. 2) und Kriterien bzw. Fragen für die Einschätzung von Möglichkeiten, aber auch für Risiken, die mit alternativen Lösungen verbunden sind. Denn es geht um das Austarieren von spannungsreichen Anforderungen (s. Kasten).

Zentrale Fragenkomplexe zur Schnittstelle zwischen Raum und Pädagogik

  • Territorialität: Wie soll die Balance von Individualität und Sozialität unterstützt werden?

  • Flexibilität: Wie soll der Wechsel unterschiedlicher Aktivitäten unterstützt werden?

  • Offenheit: Wie soll die Balance von Ruhe und Bewegung gesichert werden?

  • Distanz: Wie soll die Balance von Freiheit und Bindung unterstützt werden?

Seydels umfangreiches Werk eignet sich nicht als lockere Nebenher-Lektüre. Es ist ein anspruchsvolles Handbuch. In ihm findet man – übersichtlich systematisiert und detailliert ausgearbeitet – vielfältige und gut durchdachte Anregungen für die Gestaltung von Schulhäusern, die mehr sind als architektonische Schachteln für eine gerade noch artgerechte Haltung von Kindern und Jugendlichen. Und vor allem die 12 Schulporträts in Kap. 3 animieren mit anschaulichen Fotos und Zeichnungen, „Schule neu zu denken“. Zugleich mahnt Seydel zum Schluss seine eigene Zunft der Pädagog*innen, nicht zu vergessen: „Ein guter Schulbau allein macht noch keine gute Schule.“ Aber, und das machen seine Beispiele sehr deutlich: Architektur kann die Umsetzung pädagogischer Ideen sehr erleichtern – oder leider auch erschweren.

Autor:innen

Hans Brügelmann

Prof. Dr. Hans Brügelmann war über 30 Jahre in der Bildungsforschung und in der Lehrerausbildung tätig und hat sich – u. a. im Grundschulverband und im Schulverbund „Blick über den Zaun“ - für eine Reform des Bildungswesens engagiert.