06. February 2019; Von: Dr Gregor Harbusch

Alles auf Cluster – Neue Schulen in Deutschland

Nach Jahren des Innovations- und Investitionsstaus, bekennen sich immer mehr Städte programmatisch zu neuen Raumkonzepten. Im Interview mit Gregor Harbusch, Redakteur von BauNetz sprach Barbara Pampe über Cluster, offene Lernlandschaften, Typisierung und die Fehler im Schulbau der 1970er Jahre.

Wenn Städte wachsen, brauchen sie nicht nur Wohnungen, sondern auch Schulen – zeitgemäße Schulen. Seit vielen Jahren wandeln sich die Orte, an denen Kinder lernen, von herkömmlichen Lehranstalten zu Orten selbstorganisierten Miteinanders. Der Frontalunterricht ist längst ein Auslaufmodell und weil neue Lehrformen auch neue Raumkonzepte erfordern, steht die Aneinanderreihung von Klassenzimmern entlang eines Flurs auf dem Prüfstand. Heikel wird es, wenn zukunftsorientierte Schulkonzepte unter politischem Handlungsdruck entwickelt werden, denn dann besteht die Gefahr, dass große Ambitionen in banalen Standardlösungen enden, bei denen Architektur und Pädagogik auf der Strecke bleiben. Umso wichtiger ist eine breite Diskussion über die Gestaltung von angemessenen Räumen zum Lernen.

Seit vielen Jahren befasst sich die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft mit der Frage, was gute Bildungsbauten pädagogisch und architektonisch ausmacht. Bereits 2012 hat sie gemeinsam mit dem Bund Deutscher Architekten und dem Verband Bildung und Erziehung „Leitlinien für leistungsfähige Schulbauten in Deutschland“ herausgegeben, kürzlich wurden diese Leitlinien aktualisiert. Inzwischen bekennen sich auch viele deutsche Kommunen programmatisch zu einem neuen Schulbau. Städte wie München, Düsseldorf, Köln und Dresden haben Schulbauleitlinien erarbeitet oder sind gerade dabei. Das Land Berlin, das sich mit einem starken Bevölkerungswachstum konfrontiert sieht, hat im Rahmen einer Schulbauoffensive bis 2026 insgesamt 5,5 Milliarden Euro für Neubau und Sanierung bereitgestellt und eine Facharbeitsgruppe Schulraumqualität eingerichtet. Die Zauberworte der neuen Schulbaukonzepte heißen Cluster und offene Lernlandschaften. Auch von Lern- und Teamhäusern, von modularer Bauweise und Typisierung ist die Rede. In Köln entstehen gerade offene Lernlandschaften, und in München kann man seit kurzem erste Ergebnisse sehen. Bei der Suche nach guten Bauten richtet sich der Blick derzeit allerdings noch eher nach Skandinavien und in die Niederlande. Dort werden seit über zehn Jahren Schulen mit offenen Lernlandschaften gebaut. Vorbildcharakter in dieser Hinsicht hat beispielsweise das Orestad College in Kopenhagen von 3XN aus dem Jahr 2007, das als mehrgeschossiges, offenes Raumgefüge organisiert ist, in dem die Schüler selbständig lernen. Barbara Pampe, Projektbereichsleiterin Pädagogische Architektur bei der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft, erläutert die pädagogischen Hintergründe der neuen Schulbauwelle, spricht über Chancen und Risiken von Clustern und Typisierung – und erklärt, warum die neuen Ideen heute besser als in den Siebzigerjahren funktionieren sollten, als man vergleichbare Konzepte ausprobiert und recht schnell wieder verworfen hat.

Frau Pampe, in Skandinavien und den Niederlanden entstehen seit mehreren Jahren erstaunlich unkonventionelle Schulbauten, die Schule radikal neu denken. Aus Deutschland hingegen hören wir, dass die Kommunen neue Schulbauleitlinien erlassen. Sind wir ein solches Land der Bürokraten, dass es ohne Regelwerke nicht geht?

Das würde ich nicht so sehen. Die neuen Leitlinien, die sich die Städte momentan geben oder vor einigen Jahren gegeben haben, dienen als Hilfestellung, weil das, was es gesetzlich zum Schulbau gibt eigentlich nur noch Brandschutzforderungen sind. In den bestehenden Richtlinien steht quasi das, was uns daran hindert, Schule heute anders zu konzipieren. Hier setzen die Schulbauleitlinien an.

Haben die neuen Schulbauleitlinien das Potential für einen Paradigmenwechsel, weg von der klassischen Klassenzimmer-Flur-Schule, wie wir sie seit dem 19. Jahrhundert kennen?

Genau. Sie helfen den Kommunen, die vielen Herausforderungen zu meistern, die der heutige Schulbau mit sich bringt: Wie gehe ich mit dem Bedarf der heutigen Pädagogik und dem gesellschaftlichen Wandel um? Wie kann ich den Ansprüchen von Inklusion und Ganztagsbetreuung gerecht werden? Kurzum: Wie schaffe ich innerhalb der Gesetzeslage ein Haus, das zu den heutigen Anforderungen von Schule passt?

Wie kommt es, dass diese Leitlinien gerade jetzt formuliert wurden und werden?

Zum einen haben wir einen wahnsinnigen Investitionsstau. Vor allem aber stehen wir vor einer Menge neuer pädagogischer und gesellschaftlicher Anforderungen: Ganztagsschule und Inklusion hatte ich bereits erwähnt. Hinzu kommen der digitale Wandel und das plötzliche Wachstum unserer Städte.

Unter der Ägide von Stadtschulrat Rainer Schweppe war München die erste deutsche Kommune, die eine neue Schulbauleitlinie erarbeitet hat. Zentrale Idee ist das „Lernhaus“, eine Grundrissorganisation, die auf Cluster setzt. Was genau versteht man im Schulbau unter einem Cluster und welche Vorteile bietet es?

Unter einem Cluster versteht man die Zusammenfassung einzelner Einheiten zu einem größeren Bereich. In einem Cluster werden die Lern- und Unterrichtsräume zusammen mit den zugehörigen Differenzierungs-, Aufenthalts- und Erholungsbereichen zu einer identifizierbaren Einheit zusammengefasst. Team, -Sanitär- und Lageräume sowie Garderoben müssen ebenso mitgedacht werden. Es ist wichtig zu verstehen, dass hinter dieser architektonischen Idee ein klassenübergreifendes Organisationskonzept steht. Das Cluster ermöglicht pädagogische Flexibilität beim Wechsel der Lernformen und schafft räumliche Synergien. Deswegen brauche ich innerhalb des Clusters auch eine gewisse Transparenz. Es geht nicht mehr nur um mich und meinen Klassenraum, denn durch die Transparenz sehe ich auch, wo andere Bereiche und Flächen frei sind, die ich dann mitnutzen kann.

Worin bestehen die Herausforderungen des Clusters im pädagogischen Alltag?

Man muss im Team arbeiten. Als Pädagoge bin ich nicht mehr nur für meine Klasse zuständig, sondern Teil einer größeren Einheit, die sich auch organisatorisch abbilden muss. Früher gab es den Lehrer und seine Klasse. Jetzt sind es drei oder vier Klassen und das entsprechende pädagogische Personal. Das fordert engere Teamarbeit, aber das Konzept kommt ja aus der Pädagogik. Das architektonische Cluster ist eine räumliche Reaktion darauf, wie Pädagogen arbeiten.

In München kann man die ersten Ergebnisse sehen. 2018 haben beispielsweise Wulf Architekten vier Grundschulen fertiggestellt, die auf einem modularen Typenentwurf basieren. Die Schulen machen architektonisch einen guten Eindruck, aber ist Typisierung der richtige Weg?

Man muss hier differenzieren. München ist früh vom alten Modell der Klassenraum-Flur-Schule weg und hat das „Lernhaus“ im Musterraumprogramm der kommunalen Schulbauleitlinien festgesetzt. Die Verwaltung wusste also, was sie wollte und konnte das schnell umsetzen. Das war der erste Schritt. Im zweiten Schritt hat die Verwaltung festgestellt, dass auf Grund des hohen Bedarfs innerhalb kurzer Zeit viele Schulen geplant werden müssen. Da ist es dann nicht anders als in den 1960er- oder 1970er Jahren: Man kommt natürlich auf die Idee des Modulbaus. Aber Lernhaus und Modulbau sind zwei verschiedene Dinge. Für das Münchner Lernhaus gibt es auch Beispiele ohne Modulbau. Ich finde es nicht falsch, in dieser spezifischen Situation zu entscheiden, dass man vier Grundschulen für ähnliche Standorte in randstädtischen Neubaugebieten entwickelt und die einzelnen Projekte anpasst.

Auch Berlin setzt auf Typisierung, was zu Kritik geführt hat. Gerade wurden zwei Wettbewerbe für modulare 3- und 4-zügige Grundschulen mit Sporthalle entschieden. Ersteren gewannen h4a, Gessert + Randecker aus Stuttgart, letzteren das Berliner Büro Bruno Fioretti Marquez. Wie beurteilen Sie die Ergebnisse und glauben Sie, dass man auf diese Weise die Versäumnisse der letzten Jahre schnell wird aufholen können?

Grundsätzlich würde ich sagen, dass das nicht der richtige Weg ist. Denn Typisierung widerspricht der Idee, dass jede Schule ein eigenes Profil entwickeln soll. Das bedeutet, dass jede Schule anders ist und dementsprechend ein anderes Haus braucht. Außerdem sind städtebauliche Situation und umgebende Bildungslandschaft jeweils ganz unterschiedlich. Wenn beispielsweise direkt nebenan eine Schule mit großer Aula und riesiger Bibliothek steht, braucht die neue Schule nicht auch noch eine Aula und Bibliothek. Wir müssen heute viel ressourcenschonender bauen und uns fragen: Was braucht es eigentlich? Das sind ganz viele Dinge, die gegen Typisierung sprechen. Gleichzeitig versteht man natürlich angesichts des momentanen Drucks, innerhalb von drei oder vier Jahren neue Schulplätze anbieten zu müssen, dass über Typisierung nachgedacht wird. In der aktuellen Situation ist sie vielleicht nicht vermeidbar. Wichtiger scheint mir, dass wir versuchen, die aktuelle Schulbauwelle zu nutzen, um einen echten Innovationsschub hinzubekommen. Schule ist heute ganz anderes als vor 100 Jahren und das wird sich auch nicht mehr zurückdrehen. Wenn wir das politisch und gesamtgesellschaftlich erkennen und daraufhin eine neue Typologie von Schule entwickeln, ist das der richtige Weg. Dann ist es auch zu vertreten, wenn hier und da mal auf Modulbau oder Typisierung gesetzt wird.

München und Berlin setzen auf Cluster. Gibt es deutsche Städte, die es anders machen, individueller und mit konzeptionell anders gelagerten Grundrisslösungen?

Die Leitlinien in Köln sind zum Beispiel viel offener. Auch dort werden keine Klassenraum-Flur-Schulen mehr geplant, aber welche Lösung das jeweils richtige Modell ist, überlässt der Kölner Rahmenplan der einzelnen Schule, den Planern und der gemeinsamen Lenkungsgruppe. Aktuell arbeitet das Kölner Büro gernot schulz architektur an Neubauten innerhalb des umfangreichen Projekts Bildungslandschaft Altstadt Nord, die in circa einem Jahr fertig sein sollen. Ambitioniert ist auch die Inklusive Universitätsschule Köln (Heliosschule) der Kölner Schilling Architekten, die auf offene Lernlandschaften setzt, also nochmals einen Schritt weiter geht als das Cluster. Wir von der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft kritisieren ja auch die Musterraumprogramme vieler Schulbauleitlinien, denn diese reagieren zwar auf die aktuelle Situation, aber die Herausforderungen werden sich in der Zukunft natürlich weiter verändern. Und dann müssen sich auch die Musterraumprogramme wieder anpassen. Wenn man außerdem in Betracht zieht, dass sich die Schulen unterschiedlich profilieren sollen, dann stellt sich durchaus die Frage, ob Musterraumprogramme und die momentane Fixierung auf das Cluster die richtigen Antworten sind. Besser wäre es, die Architekten wieder viel mehr in das Thema einzubinden und Verständnis dafür zu wecken, was Schule heute eigentlich ist. Dann kann man auch neue Dinge entwickeln und nicht nur ein Modell. Deshalb plädiert die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft für eine Phase Null, in der Nutzer, Architekten und Verwaltung gemeinsam die inhaltlichen und räumlichen Grundlagen für einen neuen Schulbau erarbeiten.

Sie sind also überzeugt, dass in den neuartig organisierten, transparenten und offenen Schulen die Chancen für Schüler und Lehrer überwiegen? Lärm, Chaos und schlechte Belüftung kann man in den Griff bekommen?

Natürlich kann es diese Probleme immer noch geben, wenn ich einen riesigen Raum entwerfe und diesen nicht richtig belüfte oder mir nicht überlege, was dort passieren soll und welche Bedürfnisse die Schule eigentlich hat. Aber die wesentliche Tatsache ist, dass wir nicht mehr zur selben Zeit dasselbe tun. Hinter der Klassenraum-Flur-Schule steckt ja genau dieses Konzept: Wir führen eine in sich gleiche Gruppe zur gleichen Zeit zum gleichen Ziel. Davon sind wir definitiv weg. Wir sind eine heterogene Gesellschaft und deshalb brauchen die Schülerinnen und Schüler zum wirksamen Lernen mehr als nur die bloße Instruktion.

Der individuelle Schüler rückt also ins Zentrum?

Auf jeden Fall. Die Lernenden haben sich geändert und sind viel heterogener geworden, ihre unterschiedlichen Bedürfnisse werden heute viel stärker respektiert als früher. Vor allem aber müssen vielfältige Lehr- und Lernformen im zeitgenössischen Schulbau abbildbar sein. Das heißt, es muss Orte geben, wo ich alleine lernen kann, wo ich im kleinen Team arbeiten kann, wo ich mich mit Pädagogen beraten kann, wo ich recherchieren, präsentieren, an jahrgangsübergreifenden Projekten arbeiten, oder wo ich experimentieren kann. Wir haben eine ganze Reihe von Funktionen in der Schule, die früher nicht in der Schule waren – und das macht andere Gebäude nötig.

Der Beitrag ist ein Auszug. Das vollständige Interview mit Barbara Pampe erschien am 31.1.2019 in der Baunetzwoche #528.

Die Baunetzwoche #528 / 2019 zum Download (PDF 5,43 MB):
https://www.baunetz.de/baunetzwoche/baunetzwoche_ausgabe_5603730.html

Autor:innen

Dr Gregor Harbusch

Dr. Gregor Harbusch ist Architekturhistoriker und Redakteur bei BauNetz.