13. Oktober 2015; Von: Dr Karl-Heinz Imhäuser

2015 oder warum wir nicht mehr im Schulbau der 1970er-Jahre sind

Bei offenen Raumkonzepten im Schulbau erinnern wir uns an Konzepte aus den 1970er-Jahren. Doch 2015 ist eine neue Zeit – Cluster und Lernlandschaften stehen heute vor allem für ein Lernen in Vielfalt.

„Bei den Neubau-Wettbewerben haben wir den Eindruck, dass man sich gegenüber Themen wie Cluster und Lernlandschaft wieder öffnen möchte. Die Konzepte gab es ja bereits in den siebziger Jahren, sie sind aber nur selten umgesetzt worden.“ (Baunetzwoche #424; 1. Oktober 2015)

So steht es in einem aktuellen Beitrag in der Baunetzwoche. Ein Zusammenhang, der so oder ähnlich in letzter Zeit immer wieder aufgerufen wird: Das Wiederanknüpfen oder ein direkter Bezug des Schulbaus der Gegenwart zu Schulbaukonzepten aus den 1970er-Jahren. Aber stimmt das eigentlich? Knüpfen wir wirklich an Konzepte aus den 1970er-Jahren an – oder stehen wir heute, im Jahr 2015, an einer anderen Stelle im Schulbau, von der aus wir die Gegenwart und ihre notwendigen konzeptionellen Veränderungen im Schulbau anders denken müssen als im Anknüpfen an die Konzepte von damals?

Der Aufbruch in eine neue Zeit

Aus einer historischen Perspektive ist es durchaus berechtigt, an das Denken und die Konzepte des ausgehenden 1968er-Zeitalters und die Erkenntnisse dieser Aufbruchzeit anzuknüpfen. Denn die danach folgende Ära der 1980er-Jahre mit ihrer einerseits restaurativen Tendenz zurück in die Vergangenheit bei gleichzeitigem Durchsetzen neoliberaler Freiheiten in der Finanzökonomie, hat uns in gewissem Sinne eine Stagnation bis hin zum Stillstand in wichtigen Fragen gesellschaftlicher Weichenstellungen und auch im Bildungsbereich beschert, deren Nachwirkungen bis heute spürbar sind.

Und so scheint die gerade angelaufene Welle der Neugründung von Gemeinschafts-, Sekundar-, Stadteilschulen und auch wieder allerorten neuer Gesamtschulen einen Anklang an die Schulneugründungswelle der 1970er-Jahre nahezulegen. Und dennoch, wenn wir aus der Gegenwart heraus für die Zukunft etwas anderes als die Fortsetzung der Vergangenheit bauen wollen, müssen wir verstehen, was anders ist als in der Zeit der Erfindung der damaligen Schul- und Schulbaukonzepte.

1970: Mehr Demokratie wagen

Das Leitmotiv der 1970er-Jahre, das die Bildungsdebatte der Zeit und damit natürlich auch das Thema der damaligen Schulbauwelle gesetzt und geprägt hat, bündelt sich wohl nirgends besser als in dem berühmten Satz von Willy Brand: „Mehr Demokratie wagen“. Es war die Formel der Aufbruchzeit nach 1968 für die Überwindung der bundesrepublikanischen Nachkriegsära. Diese Formel bildete das Hintergrundrauschen der Diskurse zu neuen gesellschaftspolitischen Vorstellungen in den Disziplinen von A wie Architektur, B wie Bildung bis Z wie die Zukunftserwartungen und -trends, die durch ein verändertes Gegenwartshandeln eingefangen werden sollten. Aus ihnen entsprangen auf der Bildungsseite die Gründungswelle der Gesamtschulen und bauseitig in der Architektur und Stadtplanung neue Konzepte, die auf diesen Umbruch und die neuen Anforderungen reagierten.

2015: Mehr Vielfalt wagen

Genau davon hebt sich die Gegenwart der Dekade 2010 bis 2020 ab, wenn man sie in der Kontinuität zu den 1970er-Jahren betrachtet, an die sie zweifelsohne anknüpft, aber in der Singularität einer Gegenwart, die nie nur eine ungebrochenen Fortsetzung der Vergangenheit sein kann.

Wenn es so etwas wie eine Formel für diese Gegenwart gibt, lässt sie sich sicher verdichten in dem Satz: „Mehr Vielfalt wagen“. In Bezug auf Bildung heißt das: Abschied von der Leitidee homogener Lerngruppen, die sich durch die Bildungsforschung der letzten 20 Jahre als Fiktion erweisen.

2015 wurde eine globale Bildungsagenda für die Jahre 2016 bis 2030 von der UN verabschiedet.* Unter der Überschrift Quality Education ist das globale Ziel: „Ensure inclusive and equitable education and promote lifelong learning opportunities for all“. Auch die deutsche Bildungspolitik ist Adressat dieser neuen globalen Post-2015-Entwicklungsagenda. Es sind auch in Deutschland Modalitäten der Umsetzung und des Monitoring dieser für alle UN-Mitgliedstaaten verpflichtenden globalen Agenda zu entwickeln.

Aber nicht nur der Bildungsbereich ist hiermit unmittelbar angesprochen und umsetzungsbeauftragt. Auch das kommunale Immobilienmanagement, Architektur, Stadtplanung und die Stadtentwicklung sind unmittelbare Adressaten, wenn es in den detaillierenden drei Unterzielen unmissverständlich heißt: „Build and upgrade education facilities that are child, disability and gender sensitive and provide safe, non-violent, inclusive and effective learning environments for all“.

Fazit

„Mehr Vielfalt wagen“ bedeutet, dass es heute um individuelles Lernen in heterogenen Lerngruppen geht. D.h.: mehr Vielfalt in den Perspektiven und Zugängen zum Lernen, mehr Vielfalt der Lernwege, mehr Vielfalt in den Methoden, mehr Vielfalt in den Ergebnissen und der Leistungsbewertung, mehr Vielfalt in den räumlichen Strukturen.

Im Handbuch „Schulen planen und bauen – Grundlagen und Prozesse“ haben wir versucht, zu zeigen, was das für den Schulbau von heute bedeutet. Dort haben wir 10 Thesen formuliert, die die Verbindung zwischen pädagogischem und architektonischem Gegenwartsdiskurs aufzeigen und die deutlich machen: Wir leben in einer Gegenwart spannender und sich auf eine tiefgehend transformierende Zukunft ausgerichteter Konzepte. Sie spiegeln die aktuellen Bedarfe der heutigen Zeit und fangen die erkennbaren Zukunftstrends ein, um diese – wie in den 1970er-Jahren auch – aus der aktuellen Zeit heraus in einer angemessenen Schulbauarchitektur umzusetzen.

Foto: Lernlandschaft der 1970er-Jahre in der Laborschule Bielefeld; (c) Montag Stiftung Urbane Räume gAG

Autor:innen

Dr Karl-Heinz Imhäuser

Dr. Karl-Heinz Imhäuser, Vorstand der Montag Stiftung  ist Mitglied der Hauptversammlung der Deutschen UNESCO-Kommission und des Expertenkreises für inklusive Bildung.